Nicole Althaus NZZam Sonntag

Titelblatt NZZamSonntag310121

Nicole Althaus, Chefredaktorin "MAGAZINE"

Meine Abschrift des Artikels "Und, wie geht's?" von Chefredaktorin Nicole Althaus in der NZZamSonntag vom 31. Januar 2021 über die Stiftung Buchegg in Muri (ohne Bilder)

(Die farbigen Stellen stammen von mir)

Einsamer gemacht hat die Pandemie viele, aber niemanden so sehr wie die Menschen im Altersheim. 
Ein Besuch bei den Verletzlichsten.

Wie geht es den Menschen, die in Alters- und Pflegeheimen zu Hause sind und dem Ausnahmezustand ein Leben abringen?

Rolf Bay, 87, wusste manchmal nicht mehr, wie lange er schon den «Zimmerarrest» absass. Er sagt: «Manchmal ist Vergessen ganz gäbig.»

An einem Mittwoch im Januar, der so lang und kalt ist wie der Dienstag zuvor und der Donnerstag danach, sitzt Evi Scherrer am Fenster ihres Zimmers in einem Lehnstuhl und sucht im Schneegestöber lange nach einer Antwort: «Nichts», sagt die 94-jährige Bernerin und schneuzt sich, «eigentlich kann ich mich auf nichts mehr so richtig freuen.»
Die gelernte Krankenschwester will nicht mehr daran glauben, dass sie ihren Neffen nochmals umarmen oder auch nur das hübsche Lachen ihrer Lieblingspflegerin unter der Maske wieder sehen kann. «Ich denke, ich sterbe vorher, ich hoffe es.»
Sie nimmt den Tag, wie er kommt, versucht, nicht von der Angst überwältigt zu werden und vor allem nicht zurückzublicken, auf die zweimal zehn Tage in Quarantäne, als sie das Zimmer nicht verlassen durfte, weil jemand auf der Abteilung positiv getestet worden war.
Plötzlich sass sie allein im Ungewissen, eingesperrt in ihren Gedanken. «Schlimm war das», erinnert sie sich, «fast wie im Krieg. Damals war man auch abgeschottet. Nur waren es bloss die Männer, die von einem Tag auf den anderen verschwunden waren. Nicht alle, die man noch kennt.»
Evi Scherrer ist weder pessimistisch noch besonders traurig. Täglich liest sie den «Bund», sie ist bestens informiert und erzählt vom Kranken-schwester-Dasein früher, von den Reisen in den Orient, von ihrem Neffen, der ihr im Frühjahr, als die Heime abriegelt wurden, Krimis auf den Fenstersims ihres Zimmers im Parterre legte. Evi Scherrer hat sich einfach abgewöhnt, in die Zukunft zu schauen. So wie viele Bewohnerinnen und Bewohner, die man im Alters- und Pflegeheim Buchegg in Muri trifft.

«Gränne chönnt ig hüt, aber irgendwie muess es gäng gah.» So klingt Zuversicht am Tag, an dem der Bundesrat das Land erneut in den Lockdown schickt. Jetzt, da nach der zweiten Welle auch noch das mutierte Virus vor der Tür steht, ist der Tod noch näher gerückt, als er es sowieso schon war.
Die Hoffnung, die Zeit nach der Pandemie noch zu erleben, ist kleiner geworden und die Wünsche auch. Es fehlt schlicht die Kraft für grosse Sprünge im Kopf nach all den schlechten Nachrichten und düsteren Bildern. Nach Monaten, gefüllt mit Hoffen und Bangen.

Dabei ist die Stiftung Buchegg mit ihren 48 Bewohnerinnen und 16 Bewohnern im Durchschnittsalter von 87 Jahren bisher glimpflich durch die Krise gekommen. Darauf ist die Belegschaft ein bisschen stolz, aber noch viel mehr ist sie dankbar. Die Hiobsnachrichten aus anderen Häusern in der Schweiz sind nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen. Die Sterblichkeit infolge einer Infektion mit dem Virus ist unter Pflegebedürftigen in Institutionen am grössten. Mehr als die Hälfte aller Corona-Opfer in der Schweiz ist in einem Heimbett gestorben. Alle betonen deshalb, dass man in der Buchegg bisher Glück hatte.
Für Evi Scherrer ist der Tod noch näher gerückt, als er es sowieso schon war.
Das Glück in Zeiten von Corona ist eine leere Spalte in einer Excel-Tabelle im Computer von Emanuel Berger. Darin hält der 48-jährige Leiter Pflege und Betreuung fest, wann Bewohner oder Personen aus der Belegschaft erkrankt sind, wie der Test ausgefallen ist, wer isoliert, hospitalisiert oder in Quarantäne geschickt werden muss.

Bisher sind fünfzehn Mitarbeitende und sechs Bewohner am Virus erkrankt. Doch die Spalte für das Sterbedatum ist leer geblieben. Die Ansteckungskette konnte jedes Mal unterbrochen werden. Dank einem strengen Corona-Regime, das viel Disziplin, Solidarität und Verzicht fordert. Besonders von den Mitarbeitenden: keine Partys, keine Reisen, Beschränkung auf wenige Kontakte ausserhalb des eigenen Haushalts. Auch im vergangenen Sommer, als die Restschweiz das Leben genoss und Corona wieder ein Bier war. Dafür viele Überstunden, lange Schichten in Schutzbekleidung, Sondereinsätze überall da, wo gerade Hände und Beine gebraucht werden.

«An einem der schlimmsten Tage im Herbst», sagt Berger in seinem kleinen Büro, in dem sich Kisten mit Desinfektionsmittel stapeln, «sagte mir eine der Gruppenleiterinnen verzweifelt, sie wisse nicht, wie sie mit so wenig Leuten den morgigen Tag bewältigen solle.» Ein Teil ihres Teams war krank, ein Teil in Quarantäne, der Pool an Springerinnen bereits im Einsatz und die Betreuung und Pflege der isolierten oder vorsorglich abgeschirmten Bewohner wegen der Schutzmassnahmen viel zeit- und personalintensiver.

«Wir sind alle mehr als einmal an unsere Grenzen gestossen», sagt Berger. Ausgebildete Pflegerinnen oder Pfleger zu finden, sei schon vor der Pandemie schwierig gewesen, jetzt sei es fast unmöglich geworden, und selbst Blindbewerbungen von Aushilfen und Praktikantinnen bekomme er seit dem Frühjahr kaum mehr.

Anders als in Spitälern springt bei Engpässen auch die Armee nicht ein. Die Räte lehnten im vergangenen Dezember einen Einsatz von Sanitätern in Alters- und Pflegeheimen ab. Obwohl die Personaldecke in der Schweiz so ausgedünnt ist, dass Heimleiter in mehreren Kantonen schon Pflegerinnen zur Arbeit aufgeboten haben, die positiv auf Corona getestet worden waren. Deutlicher kann nichts zeigen, wie prekär die Lage ist.

Fünf vor zwölf: Die Betagten in der Buchegg warten nicht nur auf das Mittag­essen. Sie warten auch auf die Impfung.
Es ist fünf vor zwölf. Auf dem Serviertisch im hellen Speisesaal liegt neben dem Suppentopf der Schöpflöffel auf einer Partyserviette, die von der Silvesterfeier im Haus übriggeblieben sein muss. Das neue Jahr ist noch jung, dennoch ist es höchste Zeit für den möglichst raschen Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner.
Zwar ist die Buchegg zurzeit coronafrei, aber niemand mag sich vorstellen, was passieren könnte, wenn das mutierte, weit anstecken-dere Virus vor der Impfaktion eingeschleppt wird. Waren es im Frühjahr die Bilder aus Bergamo, die aufschreckten, sind es nun Szenen aus London. Mitte Februar würden im Heim alle, die das wollen, geimpft, sagt Geschäftsleiter Thomas Daeppen, 59. Bis dahin könne man nur höchste Vorsicht walten lassen, hoffen und warten

An den weit auseinandergerückten Tischen warten auch die Betagten: auf den Hauptgang, Linsencurry oder Pouletbrust auf Reis. Sie warten länger als sonst und sitzen oft einem Rollator gegenüber. Seit die Tische auseinandergerückt sind und daran nur mehr zwei Bewohner einander diagonal gegenübersitzen, muss in zwei Sälen gegessen werden. Das macht die Wege für den Service länger und die Mahlzeiten personalintensiver, weil Menschen, die nicht selber essen können, nicht mehr beisammensitzen.

Abstand schützt vor Ansteckung. Aber waschen, ankleiden, aktivieren und beim Essen helfen kann man nicht auf Distanz. Genauso wenig, wie man ohne körperliche Nähe den Kontakt zu den Liebsten, zur Aussenwelt aufrechterhalten kann. Zwar unterstützt die Buchegg die Beziehungspflege via Skype, doch nicht alle können damit etwas anfangen.
Wer in der Buchegg fragt, was in der Pandemie am meisten Leiden verursacht habe, bekommt stets dieselbe Antwort:
«Das Besuchsverbot», sagt Teamleiterin Rahel Flückiger. «Einige Bewohnerinnen haben schlicht nicht verstanden, weshalb ihre Söhne und Töchter nicht vorbeikommen. Sie fühlten sich verlassen und vergessen. Viele haben geistige und körperliche Ressourcen abgebaut, weil der Draht nach aussen fehlte.»
«Das Besuchsverbot», sagt Hauscoiffeuse Marianna di Carlo. Kaum habe sie mit der Kopfmassage begonnen, hätten einige Kundinnen schon angefangen zu weinen, weil ihnen Nähe und Berührung fehlten. «Sogar die Männer kommen jetzt regelmässig in den Salon.»

«Das Besuchsverbot», sagt Rolf Bay, 87. Er sitzt in einem schweren Ledersessel am Fenster und dreht am Ehering seiner verstorbenen Frau, den er sich an den kleinen Finger gesteckt hat. «Mein Schachpartner konnte nicht mehr kommen. Und hier gibt es niemanden, der mir ebenbürtig ist. Vor kurzem habe ich noch . . .», sagt der studierte Ingenieur, zeigt mit dem Finger auf das Schachbrett und sucht nach dem richtigen Begriff.,Sein Gesicht ist eingesunken, aber ausdrucksstark, seine Wortfindungsstörungen kann man an seinen ringenden Händen ablesen: «Die Figuren auf dem Brett tun noch, was ich will. Aber die Zunge nicht.» Mühsam sei das, furchtbar mühsam. «Turnier!», sagt er dann triumphierend. An Turnieren habe er gespielt. Dann lächelt der Mann und sagt leise: Immerhin habe er sich in Quarantäne nicht mehr erinnern können, ob er jetzt erst drei oder schon sieben Tage Zimmerarrest gehabt habe. «Manchmal ist Vergessen ganz gäbig.»

Der Besuch bei der Hauscoiffeuse ist ein Lichtblick im einsamen Alltag. Weil das Altern in unserer Gesellschaft ein Tabu sei, komme es als innere Erfahrung kaum zur Sprache, nur als äussere, also als Ausfall der Zähne, Glatze, Säcke unter den Augen, Runzeln und so weiter, beklagte sich Max Frisch in seinem Tagebuch. Wer an der Aussage des Schriftstellers zweifelt, verbringe ein paar Tage in der Buchegg-Gemeinschaft.
Es reicht, den Bewohnern beim Jassen zuzuschauen: Wie sie ihre Karten verfluchen, Witze reissen und den Trumpfbauern auf den Tisch knallen, als hätten sie vergessen, dass die Schulter schmerzt. Oder wie sie sich beim Turnen anstrengen, jede Übung richtig auszuführen, beim Hantelnheben die Zähne zusammenbeissen und die Ehrgeizigsten unter ihnen jeweils auf die Mitturnenden auf den Stühlen im Kreis schielen: Ob jemand wohl die Beine länger ausgestreckt halten kann?

Die Menschen in der Buchegg mögen nicht mehr viel Zukunft vor sich haben, aber sie leben, hoffen und fühlen nicht anders als Menschen mit weniger Vergangenheit. Und sie ärgern sich: «Wir sind doch nicht Abfall!», empört sich Heidi Baumgartner, «nur weil wir nicht mehr so schnell auf den Beinen sind.» Genauso aber fühle sie sich, wenn Todesfälle von 85-Jährigen kleingeredet würden oder wenn Nationalrat Caroni die Rangliste der Infektionszahlen mit der Hitparade vergleiche.

Heidi Baumgartner, 91: «Ich bin alt, aber trotzdem eine vollwertige Bürgerin.» Schmal und aufrecht sitzt die bald 92-Jährige auf ihrem roten Sofa, die Haare sind sorgfältig hergerichtet, die Halskette farblich auf den Cashmerepullover abgestimmt. Die gelernte Buchhändlerin bemüht sich nicht, ihre Gebrechlichkeit zu verstecken, genauso wenig wie ihre Eitelkeit. Ihr wacher Geist zeigt die Lust und Last der Jahre ohne Scham. «Ich habe keine Angst vor Corona. An irgendetwas muss der Mensch ja sterben», sagt sie. «Aber ich habe Angst zu versauern, mich mit niemandem mehr auseinandersetzen zu können.»
Unter dem Besuchsverbot und in den zehn Tagen in der Quarantäne habe sie wirklich gelitten. Ihre Rettung, sagt sie und zeigt auf das Gestell hinter ihr, seien die Bücher gewesen. Tagelang habe sie gelesen, um wenigstens im Kopf aus dem Zimmer zu kommen. Kurzgeschichten von Katherine Mansfield, die literarische Verarbeitung des Familienalltags von Alice Munro. Dann schaut sie lange auf ihre schönen, im Schoss ordentlich übereinandergelegten Hände und sagt: «Wissen Sie, ich konnte mich vom allermeisten leicht trennen, als ich hierhergezogen bin. Aber den langen alten Tisch meiner Grossmutter, an dem wir so oft mit Kindern, Enkelkindern und Urenkeln gegessen haben, der fehlt mir. Und die Autonomie.»
Stich! Und Stich! Jassen ist auch ein Gedächtnistraining.

Von Ansteckungsketten in den Heimen war in den Medien die Rede, vom hohen Durchschnittsalter der Infizierten und von den Opfern in den «Wartezimmern des Todes» – kaum aber von den Menschen, die dort zu Hause sind und versuchen, einen Alltag aus dem Ausnahme-zustand zu basteln.

Die Schwächsten sind leise. Anders als die Bergbahnen oder die Gastronomie haben sie keine Lobby in der Schweiz. Und so hat der Bund die Schutzkonzepte für Skilifte und Restaurants koordiniert, aber nicht für den Ort, wo die Menschen am gefährdetsten sind. Er gibt lediglich Empfehlungen ab, darunter das «Einhalten der Hygiene- und Verhaltensregeln». Die Aufsicht obliegt den Kantonen. Doch auch bei diesen scheinen die Heime nicht weit oben auf der Prioritätenliste zu stehen. Während etwa die Berner Regierung schon im März den Spitälern eine finanzielle Entschädigung für die zusätzlichen Corona-Massnahmen zusicherte, warten die Heime bis heute auf ein solches Bekenntnis.

Hat die Politik die Heime vergessen?
Andreas Stuck, Chefarzt Geriatrie an der Berner Insel-Gruppe, beantwortet die Frage in der Woche unseres Besuches gegenüber der NZZ so: «Institutionen für Betagte werden weitgehend sich selbst überlassen, und kaum jemand hat eine Idee davon, was das Personal dort gerade leistet.»

«Die Bewohnerinnen fühlten sich verlassen und vergessen.» Abteilungsleiterin Rahel Flückiger arbeitet seit vierzehn Jahren in der Buchegg.
«Wir fühlten uns allein», sagt auch der Buchegg-Leiter Daeppen. «Besonders am Anfang war das sehr schwierig. Ständig zu werweissen, ob man genug macht, ob man das Richtige tut. Wir sind nicht ein Spital, wo man sich vorübergehend aufhält, wir sind das Zuhause von 64 Menschen!» Da müsse man permanent zwischen Schutz und Autonomie abwägen. Einen eigenen Weg zu finden, sei zusätzlich erschwert worden durch die unterschiedlichen, zum Teil widersprüch-lichen Signale von Bund und Kanton.

Der eigene Weg besteht in der Buchegg darin, die Bewohner möglichst nicht einzuschränken und alles daranzusetzen, dass das Virus nicht zur Tür hereinkommt. «Es wird bei uns in erster Linie gelebt, bei allem Schweren, Schwierigen und Traurigen», so der Leiter. Dafür setzten sie sich alle mit viel Kreativität und Humor ein. So wurde das Kultur- und Aktivierungsprogramm weitergeführt, wenn auch in kleineren Gruppen, und die Pflegenden hätten vermehrt einzeln mit den Bewohnern Zeit verbracht, um fehlende Impulse von der Aussenwelt zu kompensieren.
Denn ein strenges, konsequentes Besuchsregime, das auch im Sommer nicht wesentlich gelockert wurde, gehörte zu den wich-tigsten Sicherheitsmassnahmen
. Eine Person darf Verwandte oder Bekannte in der Buchegg auf dem Zimmer besuchen. Öffentliche Räume sind tabu.

Zweitens, sagt Daeppen, habe er von Beginn weg betont, dass seine Mitarbeiter in erster Linie sich selber Sorge tragen müssen, um die Vulnerabelsten zu schützen. «Ich konnte niemandem verbieten, zu reisen oder Partys zu feiern, genauso wie ich niemanden zwingen kann, sich impfen zu lassen. Ich kann mein Team nur immer und immer wieder daran erinnern, dass es eine Fürsorgepflicht hat.»
Drittens hat man in der Buchegg viel Zeit darauf verwendet, Konzepte, Anleitungen und das Schutzkonzept zu erstellen und à jour zu halten sowie festzulegen, wie Erkrankte und deren Kontaktpersonen isoliert und umsorgt werden.


«Wir fühlten uns allein»,
sagt Buchegg-Leiter Thomas Daeppen.

Die «Pandemieboxen» stehen im Keller, wo neben Inkontinenzeinlagen und Windeln auch Masken und Schutzbekleidung sowie gigantische Kanister mit Desinfektionslösung oder Putzmittel lagern. Sorgfältig verpackt und angeschrieben, enthalten die grauen Kisten genaue Instruktionen und alles, was die Pflege für den Isolationsfall braucht: Schutzmäntel, Handschuhe, Brillen, Schuhüberzüge, Handdesinfek-tionsmittel gehören auf einen Tisch vor dem Zimmer, das rote Schild mit dem Schriftzug «Isolation» oder das gelbe Schild «Quarantäne» an die Zimmertür , ein sich in heissem Wasser auflösender Wäschesack, eine Packung Bacillol zur Reinigung von Türfallen und Oberflächen sowie ein Sack für Abfälle und kontaminierte Schutzkleidung ins isolierte Zimmer.

Niemand ausser einer Pflegerin oder einem Pfleger pro Tag darf das Zimmer betreten. Gereinigt wird während der Isolation durch die Pflegenden. Die Mahlzeiten werden auf Einweggeschirr ins Zimmer serviert. Bevor die Pflegerin das Zimmer verlässt, öffnet sie die Tür einen Spalt und wirft den Beutel mit Abfall in einen virenfreien Kehrichtsack, den eine zweite Pflegerin bereithält.
Schutzkleidung, Brille und Maske: Die Schutzmassnahmen erschweren den Pflegealltag im Fall einer Isolation.
Dann hängt sie den Schutzmantel mit der Innenseite gegen aussen an den Ständer, so dass sie das nächste Mal problemlos wieder hinein-schlüpfen kann, verlässt das Zimmer, entsorgt die Maske, desinfiziert Brille, Türfallen und Türdrücker und zuletzt die Hände. Klingelt der Patient, fängt das Prozedere von vorne an. Kann die Isolation aufge-hoben werden, wird das ganze Zimmer gereinigt und desinfiziert, Bett- und Frottierwäsche werden gewechselt, Vorhänge und Teppiche gereinigt. Das bedeutet viel Zusatzarbeit für ein Team, das schon im normalen Alltag mehr als ausgelastet ist.

Doch dank diesen aufwendigen Massnahmen hat Marianne Emmert niemanden angesteckt. Und sie hat das Virus überlebt. Noch steht das Sauerstoffgerät neben ihrem Bett, noch sind die Beine schwach, aber die 89-Jährige macht schon wieder Witze: «Ihr kommt zehn Minuten zu spät. Dabei wisst ihr doch, dass meine Zeit knapp ist.» Obwohl ihr eigentlich nicht zum Lachen zumute ist, wie sie sagt, lacht sie.
Dann erzählt sie von der weissen Kiste. Corona habe sich angefühlt, als läge sie in einer weissen, öden Kiste, in der die Zeit unendlich geworden sei und niemand sie erreicht habe. Ganz losgeworden sei sie das Gefühl bis heute nicht. Und schon gar nicht die Angst, dass sich nochmals jemand anstecke, dass sie wieder «in Einzelhaft» müsse.
Was das anrichte, jetzt schluchzt die Frau, wenn dreimal am Tag jemand komme, um schnell das Essen zu bringen, und man sonst sich selbst überlassen sei, könne man sich nicht vorstellen.
«Es ist, als ob ein Teil von mir verschwunden wäre. Ich kann keine Bücher mehr lesen. Ich muss wieder lernen zu laufen
», sagt sie und schaut zum dritten Mal in zehn Minuten auf die Uhr, als wolle das Gespräch nicht vorübergehen. Oder der ganze Tag. «Und ich muss wieder lernen, mich zu freuen.»

«Corona hat sich angefühlt, als läge ich in einer weissen Kiste, in der die Zeit nicht vorbeiging.» Marianne Emmert, 89.

«Vielleicht wird alles viel leichter», steht in grossen, von Hand geschriebenen Buchstaben auf einem A3-Bogen. Er hängt an der Pinwand im Büro von Abteilungsleiterin Rahel Flückiger, unübersehbar für alle, die den Raum betreten. So viel Zuversicht muss sein nach fast einem Jahr Alltag im Ausnahmezustand.
«Langsam macht sich die Doppelbelastung schon bemerkbar», sagt die 40-jährige Fachfrau Gesundheit. «Man arbeitet viel, schränkt sich selber ein, hat dauernd Angst, jemanden anzustecken, und wenn eine Mitarbeiterin wegen des Kindes in Quarantäne zu Hause bleibt, muss man schon wieder eine Kollegin aus ihrem weiss Gott verdienten Freitag reissen.»

Seit vierzehn Jahren arbeitet Flückiger nun in der Buchegg, sie hat Winter erlebt, in denen das Norovirus schlimm wütete, Winter, in denen besonders viele Bewohnerinnen starben, aber noch nie einen Winter, in dem sie so erbittert gegen Resignation ankämpfen musste. «Gerade Menschen, die ein Leben lang selbständig waren wie Frau Emmert, leiden sehr unter dem Autonomieverlust in der Isolation oder der Quarantäne.» Sie bauten kognitiv ab, liessen sich gehen, entwickelten Ängste oder würden aggressiv.

Nur schon die Maskenpflicht: Draussen sei das einfach lästig, hier drinnen aber erschwere es jedes Gespräch, jede Begegnung. Schliesslich hörten oder sähen die meisten Betagten schlecht, und Demente könnten manchmal die Gesichter, die ihnen am vertrautesten sind, nicht mehr erkennen. Gerade in dieser schwierigen Zeit, sagt Flückiger, in der die Betagten besonders viel Nähe und Aufmerksamkeit brauchten, dürften sie nur wenig Besuch empfangen, und dieser müsse auch noch Distanz halten.
Ein Teufelskreis, der wiederum die zusätzlich belastet, die sich sowieso schon Tag und Nacht kümmern.

Coronamüde sind in der Buchegg alle. Und alle versuchen die Tage zu nehmen, wie sie kommen, einen nach dem anderen. Wie die Bewohnerinnen und Bewohner ist auch der Chef des Hauses bescheiden geworden in seinen Wünschen: «Am meisten freue ich mich darauf, endlich einmal wieder meine beiden erwachsenen Töchter in den Arm zu nehmen», sagt er, «das habe ich mir seit fast einem Jahr verboten.»
Und noch etwas wird er tun, wenn die Ruhe wieder einkehrt in der Buchegg: «Bis zur Pensionierung will ich mich gezielt mit dem eigenen Älterwerden befassen.» Der Mensch könne unverarbeitete Erlebnisse oder Beziehungen zwar verdrängen und dank einer Demenz sogar vergessen, die damit verbundenen Gefühle aber blieben zurück.
«Es tut weh»
, klagten Betagte manchmal, wenn er sich zu ihnen setze, aber sie könnten nicht sagen, wo und weshalb. Das Corona-Jahr habe ihm einmal mehr sehr deutlich vor Augen geführt:
«Alter kann besser gelingen, wenn man sich früh damit auseinandersetzt.»


Schluss meines Textes aus der NZZamSonntag vom 31.2.2021